Ein Blick in die Vorschauen der Verlage zeigt es: Auch im Frühjahr 2023 hat sich am Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen wenig geändert. Das gilt neben der Literatur vor allem für den Sachbuchbereich, in dem viele Verlage nach wie vor zu glauben scheinen, nur Männer seien kompetent, nur Männer hätten was zu sagen. Sachbücher von Frauen sucht man in einigen Programmen vergebens, und wer jetzt denkt, das liegt daran, dass Frauen keine schreiben, irrt gewaltig, und wer denkt: ach, ich nehme, was mich interessiert, das Geschlecht ist mir egal, irrt noch mehr.
Was ihr in der Buchhandlung liegen seht, ist längst durch misogyne Filter im Hintergrund gegangen, eure Wahl ist nicht frei. Da es weniger Bücher von Frauen gibt und wir dank männlich geprägtem Schulkanon nie gelernt haben, sie zu lesen, fehlt uns der Blick auf die Gesellschaft aus Frauensicht. Ich kann euch garantieren: Diese Perspektive einzunehmen, verändert alles. Also konzentrieren wir uns heute auf nichtbelletristische Bücher weiblicher Autorinnen, die sich oft mit struktureller Ungerechtigkeit, Care-Arbeit, Geld und Macht, Kapitalismus und ungesunden Körperbildern beschäftigen. Oder kurz besagt: mit der Frage nach einer besseren Welt.
#1 Franziska Schutzbach: Die Erschöpfung der Frauen
Die bekannte Schweizer Geschlechterforscherin beweist, dass die Erschöpfung der Frauen kein Kollateralschaden ist, sondern gezielt hervorgerufen und in Kauf genommen wird. Sie schreibt über Fatshaming und Verlegenheitssex, über Elternschaft und Verausgabung im Beruf. Am meisten feiere ich sie für den Satz: „Elternsein bedeutet radikale Pausenlosigkeit.“ Ja, es erscheinen viele feministische Sachbücher, die aufzeigen, welch tonnenschwere Last unsere Gesellschaft auf den Frauen ablädt. Ihr müsst sie nicht alle lesen, dieses hier aber sehr wohl.
#2 Jacinta Nandi: 50 ways to leave your Ehemann
Niemand kann derart witzig und zugleich informativ über gesellschaftliche Probleme schreiben wie Jacinta Nandi. In ihrem neuen Buch geht es um Sorgearbeit und alleinerziehende Mütter, um Hartz IV und die Frage, warum und wie es Frauen verunmöglicht wird, aus gewaltvollen Beziehungen zu fliehen. Alles an diesen Essays ist subjektiv, und alles daran ist wahr. Am liebsten würde ich sämtlichen Menschen damit auf den Kopf hauen, damit in ihre Gehirne reingeht, was drinsteht. Stattdessen könnt ihr es aber natürlich auch einfach lesen.
#3 Teresa Bücker: Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit
Dieses übersichtliche, klar formulierte und sehr durchdachte Werk hinterfragt unsere Leistungsgesellschaft, unsere Aufteilung von Zeit, unsere Bewertung von Zeit. Ist Zeit wirklich Geld? Und wenn ja, warum? Wieso lassen wir es zu, dass über unsere Lebenszeit bestimmt wird, dass wir nie tun können, was wir wollen, warum verlangen wir nicht, dass wir selbst bestimmen dürfen? Und welche Lösungen gäbe es, wie könnte Zeit anders strukturiert werden, wie könnten wir leben? Ein sehr lesenswertes, kluges Buch, für das es wirklich an der Zeit ist.
#4 Mareice Kaiser: Wie viel. Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht
Wie viel Geld ist genug? Das hat Mareice Kaiser unterschiedliche Menschen gefragt: solche, die Geld haben, und solche, die keines haben. Wie viel Kapitalismus ist genug?, könnte auch eine Kernfrage des neuen Buchs der Journalistin und Autorin lauten, die sich mit Armut, Reichtum und der Verteilung von beidem beschäftigt. Es heißt ja, das Tabu, nicht zu sagen, wer wie viel verdient, soll das Ungleichgewicht verbergen: Damit Menschen, die weniger bekommen (etwa Frauen), das nicht merken. Lasst uns das ändern! Dieses Buch macht den Anfang.
#5 Marlen Hobrack: Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet
Marlen Hobrack schreibt offen, ungeschönt, von innen als Tochter einer Mutter aus der Arbeiterklasse, gleichzeitig von außen, als Journalistin, als Frau mit Zugang zu Bildung, Wissen, Theorien über Patriarchat und Klassismus. Ihre Mutter, die seit frühester Jugend hart gearbeitet hat, hat das Wissen der Tochter nicht. Sie stand bereits mit 12 Jahren in der Fabrik am Fließband. Sie ist Auslöser und Grund vieler Debatten, ohne je daran teilzunehmen, ohne je berücksichtigt zu werden. Ein kontroverses, teilweise hartes, augenöffnendes Buch.
#6 Lisa Jaspers, Naomi Ryland, Silvie Horch: Unlearn Patriarchy
Wären Bücher wie dieses Schullektüre, hätten wir eine viel offenere, besser funktionierende Gesellschaft. In „Unlearn Patriarchy“ sind Beiträge und Essays von 15 Autor:innen versammelt, Teresa Bücker gehört dazu und Linus Giese, Madeleine Alizadeh genauso wie Kristina Lunz. In seiner Bandbreite deckt das Buch relevante gesellschaftliche Themen wie Klimakrise und Identität, Gender, Rassismus und unser Zusammenleben sehr gut ab, ist als Einstieg bestens geeignet, gibt aber auch fundierten Denkenden weiterführende Anregungen.
#7 Nicole Seifert: Frauenliteratur
Allen Deutschlehrer:innen möchte ich dieses Buch vors Gesicht binden, damit sie endlich etwas ändern. Es geht darin um die Vernachlässigung weiblicher Stimmen seit Jahrhunderten, um das Herabwürdigen von Autorinnen durch Kritiker, um das Schreiben von Frauen, dem seit jeher so viele Steine in den Weg gelegt wurden und werden. Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert, die sich in ihrem preisgekrönten Blog Nacht und Tag ausschließlich Büchern von Frauen widmet, ist die Expertin fürs Thema und hat die Faktenlage großartig aufbereitet. Unbedingt lesen!
#8 bell hooks: Männer, Männlichkeit und Liebe. Der Wille zur Veränderung
Die grandiose bell hooks formuliert in ihrer gewohnt klaren Sprache, was unglaublich wichtig ist in allen Diskussionen um das Ende des Patriarchats: dass die Gesellschaft, in der wir leben und in der Frauen aus vielerlei Gründen unterdrückt werden, auch für Männer die schlechteste aller Welten bedeutet. Sie zeigt, wie männlichen Kindern das Zärtliche, Neugierige, Offene nicht nur abgesprochen, sondern geraubt wird – und welche Folgen das hat. Ein ebenso trauriges wie aufwühlendes Buch, das eure Sichtweise auf die Welt wirklich verändern kann.
#9 Katrine Marçal: Die Mutter der Erfindung. Wie in einer Welt für Männer gute Ideen ignoriert werden
Sehr anschaulich erklärt die schwedische Autorin, wie wir uns als Gesellschaft selbst ausbremsen, indem wir Ideen und Technologien in binäre Schemata pressen – und nur das als förderungswürdig einstufen, was wir als männlich codieren. Von Erkenntnissen, dass steinzeitliche Funde keine Waffen, sondern Grabstöcke von Frauen waren, bis hin zu künstlicher Intelligenz, die wir mit dem vergleichen, was für männliche Wissenschaftler als menschlich gilt, führt Katrine Marçal aus, wo wir falsch abgebogen sind und aus welchen Gründen.
#10 Vera Weidenbach: Die unerzählte Geschichte. Wie Frauen die moderne Welt erschufen – und warum wir sie nicht kennen
Frauen müssen nicht „in die Geschichte hineinerzählt werden“, sie waren immer schon da – es ist uns nur nicht bewusst. Das will Vera Weidenbach mit diesem Buch ändern: Camille Claudel prägte die Bildhauerei der Moderne, Rosalind Franklin beschrieb die DNA, Ada Lovelace das erste Computerprogramm und Lise Meitner die Kernspaltung. Viele der wichtigsten Errungenschaften der Menschheit verdanken wir Frauen, und kaum jemand kennt ihre Namen. Es wird Zeit, dass wir die Geschichte endlich so schreiben, wie sie wirklich gewesen ist.
#11 Elinor Cleghorn: Die kranke Frau. Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen
Seit einer Weile geistert das Halbwissen herum, dass Frauen von der Medizin falsch behandelt und sträflich vernachlässigt werden. Wie das konkret aussieht und weshalb es dazu kommen konnte, führt uns Elinor Cleghorn in dieser umfassenden Kulturgeschichte vor Augen, die von den antiken Anfängen der Medizin bis in die Gegenwart reicht. Die Autorin, selbst an einer Autoimmunerkrankung erkrankt, deckt patriarchale Mythen auf und macht deutlich, wie sexistisch die Medizin ist. Ein wichtiger Beitrag zum Kampf für bessere weibliche Gesundheit.
#12 Elisabeth Lechner: Riot don’t diet! Aufstand der widerspenstigen Körper
Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner hat über Dickenhass und Othering geschrieben, über Queerness und Körperbehaarung, über Age-Shaming und den Umgang mit Behinderungen. Dieses Buch ist so inklusiv, wie die Gesellschaft es sein sollte, es bezieht alle mit ein: Männer wie Frauen, Weiße wie Schwarze, heterosexuelle wie queere Menschen. Wieso sind Körper gefangen zwischen Unsichtbarkeit und Hypersichtbarkeit und warum lehnen wir Dicksein ab, obwohl so viele von uns nicht dünn sind? All das und vieles mehr beantwortet dieses Buch.
#13 Susie Orbach: Bodies. Im Kampf mit dem Körper
Die Psychotherapeutin Susie Orbach hat ihr bahnbrechendes Sachbuch aus dem Jahr 2009 überarbeitet und das informative Werk, das sich mit Körperdiktatur und ihren Zwängen auseinandersetzt, neu aufgelegt. Sie berichtet aus ihrer Praxis, erzählt Fallgeschichten und stellt Verbindungen her zwischen dem Leidensweg der Individuen und dem systemischen Missbrauch der Körper im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Sie zeigt, dass unser Körperbild immer kulturell beeinflusst war und bis heute ist – und welche Ausprägungen der aktuelle Optimierungswahn hat.
Mareike liest und schreibt
Es ist so: Wir kennen keinen Menschen, der so viel liest wie Mareike. Wer uns nicht glaubt, kann auf Instagram nachschauen. Vielleicht ist das der Grund, warum sie so viel gelobt wird und so schöne Bücher schreibt. Die werden mittlerweile auch schon für die Bühne und den Screen aufbereitet. Way to go.