Was Corona für Junge bedeutet: Marvin ist 24 Jahre und gehört zur Risikogruppe

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Gerade hat die Regierung verlautbart, dass die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona gelockert werden sollen. Marvin gehört zur Risikogruppe – und das, obwohl er 24 Jahre alt ist. Warum er euch bittet, die Ausgangssperre auch zu Ostern ernst zu nehmen, wird beim Lesen seines Textes klar.  

Fotos und Text: Marvin Bergauer

13.3.2020

Der Wecker klingelt ohne Zweck. Es ist 8:30 und ich steh wieder auf: Hose anziehen, Zähne putzen, rasieren, frühstücken. So schlimm ist das Leben gar nicht, murmel ich zu mir selbst, als ich mir das nächste Lachsbrötchen gönne. Ich mache wie jeden Tag nach dem Frühstück alibi-mäßig ein paar Liegestütze, um mich dann guten Gewissens wieder ins Bett fallen zu lassen, als ich lese, dass es nun starke Ausgangsbeschränkungen gibt. Sofort ruft mich meine Hausärztin an und erklärt, dass ich drei mal soviel aufpassen muss wie alle anderen. Stichwort Hochrisikogruppe. „Toller Geburtstag“ seufze ich. Sofort ist die gute Laune weg und ich bekomme Flashbacks.

Irgendwann im Jahr 1997

„Riinnngg“ klingelt das Schnurtelefon meiner Eltern. Ich hab in dem Moment wahrscheinlich gerade mit meiner Zwillingsschwester gekuschelt oder gestritten. Wenn man ein knappes Jahr alt ist macht man nicht viel anderes, vielleicht noch durch die Gegend krabbeln. Ich bin eigentlich die ganze Zeit irgendwo herumgeturnt. „Ihr Sohn hat ein auffällig lautes Geräusch bei seinem Herzschlag, kommen Sie am besten ins Krankenhaus, dann kann ich Ihnen alles genauer erklären.“ So oder so ähnlich wird die erste Kardiologin, die mich als Kleinkind behandelt hat, es wohl formuliert haben. Stunden später stand die Erkenntnis: Mir fehlte von Geburt an eine Herzklappe, „bikuspide Aortenklappe“ nennt sich das anscheinend. Es wird jedoch nicht schon in jungem Alter zum Problem werden und kaum Einschränkungen in meinem Leben bringen. Ich muss halt einmal im Jahr zur Kontrolle und darf nicht Leistungssportler werden, „das ist alles“, wurde mir gesagt. All dies stellte sich leider als falsch heraus.

Sommer 2018

„Ich war wohl noch nie so gut in Form, hab einen wirklich tollen Körper“, denke ich mir, als ich in den Spiegel schaue. Klingt vielleicht ein bisschen selbstverliebt, aber was ist so schlimm daran, sich für Trainingsfortschritte zu loben? Immerhin macht mir nichts so sehr Spaß wie Sport jeder Form. Ob es herumkraxeln ist, Fußball, schwimmen oder was auch immer, es fühlt sich einfach geil und lebendig an. Außerdem ist positive Motivation wichtig, ich muss in ein paar Stunden aufs Ergometer steigen. Die alljährliche Kontrolle im Krankenhaus steht mitsamt einem Belastungstest an.

Am Ergometer folgt jedoch die riesige Enttäuschung. Nur 56 % der Leistung eines durchschnittlichen 22-Jährigen. 56 Prozent!

In der Kardiologie beißt sofort der Geruch des Desinfektionsmittels in der Nase, im Hintergrund wimmern ein paar ältere Leute. Gott, wie ich diese Ambulanz hasse. Um mich von all dem abzulenken höre ich Musik. „Tipping Point“ von Skrizzly Adams. Beim Refrain angekommen vergesse ich sofort das ganze Drumherum. Ein bedeutsamer Song für mich, wie sich später herausstellen sollte.

Am Ergometer folgt jedoch die riesige Enttäuschung. Nur 56 % der Leistung eines durchschnittlichen 22-Jährigen. 56 Prozent! Ich beteure meiner Ärztin, sie nicht anzulügen, dass ich sehr viel Sport mache. Sofort werden extrem umfassende Tests angeordnet, alles muss durchgecheckt werden, mit dem Herz beginnend.

Wenige Wochen später die Diagnosen dieser Tests: Ich habe eine geringe Lungenfunktion und dadurch Asthma, mein Herzfehler hat sich enorm verschlimmert, ich darf nie wieder intensiven Sport machen und muss spätestens in zwei Jahren operiert werden, ansonsten hält das mein Herz bei ähnlicher Entwicklung nicht viel länger durch. Definiere Schlag in die Fresse.

Frühjahr 2019

„Da da da dadadada“ der typische iPhone Klingelton, den wohl jeder kennt, ertönt. Die Nummer der Kardiologie im Landeskrankenhaus. Aufgeregt erzählt meine Ärztin, dass man aufgrund meines jungen Alters eine relativ neuartige Operation versuchen könnte. Eine sogenannte „Herzklappenrekonstruktion“. Es wird keine neue Herzklappe eingesetzt, sondern die vorhandenen Teile so symmetrisch hingebogen, dass mein Herz normal schließen kann. Dadurch würde ich alles machen können, mehr als vorher in meinem gesamten Leben! Ich bin so was von hyped und gut drauf! Das ist mehr als ich mir jemals erträumt hatte! Vor lauter euphorischem durch die Wohnung springen höre ich nur noch nebenbei das erste Mal den Namen einer der beeindruckendsten Personen, die mir jemals begegnen wird: Dr. Dinges.

Er ist auf diesem Gebiet der einzige chirurgische Experte in ganz Österreich.

Sommer 2019

Ich muss ein paar Tage für präoperative Untersuchungen ins Krankenhaus. Zusätzlich wird der Termin für die Operation fixiert: der 9.10.2019.

Gelangweilt sitze ich auf dem Krankenhausbett und spiele auf meinem Handy rum. Mühle online. Wahrscheinlich färben die durchschnittlich 70-jährigen Herzkranken, auch Zimmernachbarn genannt, auf mich ab. Ich bin nicht gut gelaunt. Ein 12-jähriger Chinese hat mir gerade den letzten Stein genommen und in dem Moment wirkt es so, als ob das mein dringlichstes Problem sei. Dann klopft es an der Tür, gefühlt fällt einem der alten Knacker vor Schreck das Gebiss raus. Ein großer Mann, Mitte 40, mit der wärmsten und zugleich bestimmtesten Ausstrahlung, die ich je gesehen hab, steht am Türspalt. „Herr Bergauer? Mein Name ist Christian Dinges.“

Ich verstehe mich prächtig mit ihm. Wir reden lange über meinen Job in der Politik, seinen Job als Arzt, Psychosomatik und Sartre. Das Gespräch dauert viel länger als es müsste, aber wir beide genießen es. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlt es sich so an, als ob mein Herz in guten Händen wäre (pun intended).

Ich weiß, dass diese Operation noch nicht viele Leute gemacht haben. Dass es sein kann, dass sie nicht funktionieren wird. Ich weiß nicht mal was der Plan B ist, wenn es überhaupt einen gibt.

9.10.2019

Dr. Dinges drückt meine Hand fest und sieht mich zugleich sanft an, „nun ist es soweit“ flüstert er mir selbstbewusst zu. Am Vorabend hat er mir den Ablauf erklärt: Brustkorb aufschneiden, das Herz stilllegen, die vorhandenen Teile symmetrisch zusammennähen, mit einem kleinen Metallring fixieren, das Herz neu starten und aufs Beste hoffen, das ist der Plan. Ich weiß, dass diese Operation noch nicht viele Leute gemacht haben. Dass es sein kann, dass sie nicht funktionieren wird. Ich weiß nicht mal was der Plan B ist, wenn es überhaupt einen gibt. Vielleicht schlafe ich auch das letzte Mal ein. Doch all das kann ich in diesem Moment gut ausblenden. Auch meine Schwester steht am Bett und redet mir gut zu. Oder ich bilde mir das nur ein. Das Narkosemittel kickt ziemlich. Ich lege meine Hand aufs Herz, atme tief ein und in dem Wissen, dass sich nun alles ändern wird, rufe ich „bereit!“. Meine Lider werden schwer, die Augen fallen zu und ich bin so was von bereit.

Ende November 2019

„Eine große Narbe hast du da!“ lacht mich Thomas an. Er sitzt auf dem Ergometer im Rehazentrum gegenüber von mir und merkt charmant an, dass mein Shirt verrutscht ist. Etwas peinlich berührt lächle ich zurück und modifiziere mein Outfit etwas. Ich drehe die Musik wieder lauter, es ist „Tipping Point“, auch liebevoll „offizieller Rehasong“ getauft. Ich trete fest in die Pedale und denke an einen der schönsten Momente ever zurück: Als ich nach der OP aufwache und meine Familie am Bett steht. Sie haben Tränen der Freude in den Augen, als sie mir sagen, dass alles geklappt hat. Ich bin noch sehr benebelt und habe keine Ahnung, was geklappt haben soll. Erst langsam realisiere ich, was sie meinen. Ich kann mich noch kaum bewegen, die OP hat über 7 Stunden gedauert. Ich gluckse vor Freude laut auf. Und muss unisono mit meiner Familie weinen. Es hat alles geklappt. Es ist vorbei.

Das Lächeln auf meinem Gesicht wird größer und Thomas lächelt zurück. So wie auch Heidi, die mindestens 80 Jahre alte Frau, bei der mir völlig unbegreiflich ist, wie sie auf dem Ergometer so flott radeln kann.

Das bedeutet: in meinem Körper haben sich Antikörper gebildet, die wiederum eine entzündliche Flüssigkeit entwickelt haben. Diese nennt sich Pericard-Erguss und hat das Ziel den kleinen Fremdkörper namens Metallring in meinem Herzen abzustoßen, was höchstwahrscheinlich tödlich wäre.

Dann kommt Kai, der Physiotherapeut, auf mich zu. Es ist das erste Mal, dass er mich so ernst ansieht. Er meint, ich soll sofort vom Rad runtersteigen und direkt zur Ärztin gehen, mein Puls und meine Blutwerte stimmen nicht. Ich bekomme die niederschmetternde Diagnose: Dressler-Syndrom.

Das bedeutet: In meinem Körper haben sich Antikörper gebildet, die wiederum eine entzündliche Flüssigkeit entwickelt haben. Diese nennt sich Pericard-Erguss und hat das Ziel den kleinen Fremdkörper namens Metallring in meinem Herzen abzustoßen, was höchstwahrscheinlich tödlich wäre. Auf dem Weg dahin hat sie es geschafft, meine Lunge, mein Rippenfell und leider auch meinen Herzbeutel zu entzünden. Ich komme keinen Tag zu spät, um es so zu formulieren. Ich muss wieder ins Krankenhaus (kotz) und werde dort wieder über eine Woche bleiben. Mit viel Antibiotika, Cortison, Colchicin und weiß ich was kann die Entzündung noch rechtzeitig gestoppt werden. Die schlechte Nachricht: Innerhalb von 1-2 Jahren kann sich der Pericard-Erguss jederzeit wieder entwickeln. Juhu.

Gegenwart

Die Ärztin erklärt mir, dass ich dreifach zur Risikogruppe gehöre: Durch mein Asthma, meine Vorerkrankung am Herzen und das Cortison, das ich seit ein paar Wochen dauerhaft nehmen muss. Ich seufze noch tiefer. Besorgt frage ich nach, ob ich denn nicht mit dem Cortison aufhören könnte. Es geht nicht, erklärt sie mir eindringlich. Dadurch, dass dieses Dressler-Syndrom noch 2 weitere Male kam, haben sie gemeinsam mit vielen anderen Ärzt*innen festgestellt, dass mein Körper ohne diesem nicht überleben kann. Aufgrund des Zusammentreffens vieler unwahrscheinlicher Faktoren (seltene Herz-OP, ungewöhnlich junges Alter, seltenes Syndrom) leisten alle Pionierarbeit, wie sie nicht müde wird zu betonen. „Happy Birthday“, werfe ich mir selbst an den Kopf.

Nun bin ich also hier, in meinen eigenen vier Wänden, in Quarantäne. Und wisst ihr was? Es ist nicht mal so übel. Ich bin vorübergehend wieder bei meiner Mutter eingezogen und wir verstehen uns wie immer prächtig. Ich habe inzwischen alle Videochats mit meinen Freund*innen durch, vom klassischen Skype bis zu diesem neuartigen „Houseparty“. Ich kann durchschnaufen, bin in Sicherheit. Kann in Ruhe meinen Hobbys nachgehen, auch wenn ich ab und zu Sitzungen online habe. Und auch wenn die Sonne scheint: Ich bleibe zuhause.

Bitte bleibt zuhause – auch für mich!

Ja, es ist für uns alle mühsam, eine Ausgangsbeschränkung bis -sperre zu haben.

Ja, es ist alles andere als einfach, sich nicht mit Freund*innen auf ein Bier treffen zu können.

Vielleicht erscheinen diese Einschränkungen auch unverständlich, wenn man selbst nicht zur Risikogruppe gehört. Aber wir können verhindern, dass Menschen an diesem Corona-Dreck sterben! Durchs zuhause bleiben. So einfach und so schwer zugleich ist es. Und wenn ihr es nicht für euch selbst macht, macht es für eure Großeltern, die Nachbar*innen und unzählige junge Gefährdete wie mich.

Denn meine Geschichte ist nur eine von vielen und ich bin nur einer von einer riesigen Anzahl an jungen Risikopatient*innen.

Ja, ich sitze manchmal an meinem Fenster und bekomme Flashbacks vom Ergometer, von Dr. Dinges, vom beißenden Gestank des Desinfektionsmittels und meinen verzweifelten Eltern, als das Dressler-Syndrom mal wieder da war.

Doch so lange man überlebt, ist nichts je umsonst.

Also bitte helft alle mit, zig-tausende Leben zu retten.

Für mich, für dich und für uns alle.

#stayathome #bleibtsdahoam

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