So überstehen wir das krisengebeutelte Wrack 2020
Ist es möglich, an einer Welt nicht zu verzweifeln, die brennt, ihre Atmosphäre vergiftet, von einer Seuche heimgesucht wird und vermüllt? Und darf man das überhaupt noch, sein persönliches Glück finden? Wir haben einen Armutsforscher gefragt, wie man vor lauter Klima- Polit- und Gesundheitskrisen nicht das Handtuch wirft.
Es ist ein frühherbstlicher Sonntagmorgen und A. und ich liegen auf der Bank auf dem Balkon, unsere Beine übereinandergestapelt. Auf der Wiese zwischen den Wohnsilos spielen Kinder: dunkelhäutige, dicke, blonde, wir finden das schön. Irgendwo abgeschirmt von den Wohnsilos rauscht eine mehrspurige Straße vorbei. A. und ich haben uns an Käse, Hummus und Olivenbrot sattgegessen und nippen nur noch träge am lauwarmen Kaffee. Es geht uns gut an diesem Sonntagmorgen. Dann sagt A., dass er manchmal, wenn er Zeitung liest, nicht weiß, ob er zuversichtlich in die Zukunft schauen kann. Und wie immer widerspreche ich vehement, weil Zukunftspessimismus die Stimmung und diesen schönen Sonntagmorgen ruinieren würde und ich das gar nicht hören will.
Darf man das überhaupt, glücklich sein, während die Welt brennt?
Aber eigentlich hat A. recht: Die Welt im Jahr 2020 ist ein krisengebeuteltes Wrack. Nicht nur, weil da dieses verdammte Virus seine Kreise zieht und unzählige Menschen in den physischen oder finanziellen Tod reißt. Da ist auch noch der egomanische Präsident in den Vereinigten Staaten mit dem Ziel, das auch zu bleiben. In Europa ersaufen immer noch viel zu viele Menschen im Mittelmeer oder fristen in griechischen Lagern ein menschenunwürdiges Dasein, während Kanzler Kurz sich weigert, auch nur ein Kind in Österreich aufzunehmen. Und über allem schwebt das Damoklesschwert Klimakatastrophe, sie steht uns allen bevor, und kann heute schon an Waldbränden und Hitzewellen mitverfolgt werden und wird vor allem auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen. Die Liste kann man beliebig fortsetzen. 2020 als Meme ist Hide-the-Pain-Harold, der weißhaarige Senior mit dem schmerzverzogenen Lächeln, es ist der Comichund von Zeichner KC Greenn im brennenden Gemäuer. Wie schafft man es also, bei all den Hiobsbotschaften in diesem vermaledeiten 2020 nicht den Mut und die Zuversicht zu verlieren? Und: Darf man das überhaupt, glücklich sein, während die Welt brennt?
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Was Krisen mit uns machen
Wenn die Menschen die Krise kriegen, reagieren sie erstmal auf zweierlei Art und Weise: Sie bleiben optimistisch und handlungsfähig – oder sie fühlen sich zutiefst verunsichert. So erklärt es zumindest Helmut Gaisbauer. Er ist Armutsforscher an der Universität Salzburg und geht dort sozialethischen Fragen nach, wie eine Gesellschaft gerechter und inklusiver werden kann. Zudem forscht er als Präsident des Internationalen Forschungszentrums für soziale und ethische Fragen aktuell über resiliente Gemeinschaften. Wie passend, finden wir.
Zwei Schlagwörter im Umgang mit Krisen hebt Gaisbauer hervor: Resilienz und Ambiguitätstoleranz. Auf Deutsch: psychische Widerstandsfähigkeit und das Vermögen, mit Uneindeutigkeit umzugehen. Denn das sind Krisen allen voran, so Gaisbauer: Sie hebeln unsere gewohnten Orientierungssysteme aus, stellen uns vor ungekannte Ungewissheiten und bescheren uns einen umfassenden Orientierungsverlust. „Menschen, die mit ausreichender Toleranz gegenüber Ambiguität ausgestattet sind, können sich in dieser schwierigen Lage auf einen Kern von haltgebenden Überzeugungen und Werte verlassen und bleiben damit on track“, erklärt Gaisbauer.
Warum ein unsichtbares Virus bei Verschwörungstheoretiker*innen auf fruchtbaren Boden fällt
Diese Gruppe gesegneter Mitbürger*innen bleibt resilient und der eigenen Moral treu und lebt diese mit sanftem Nachdruck weiterhin. In ihrem Umfeld werden sie Gaisbauer zufolge als helfend, stärkend und beruhigend wahrgenommen. Menschen aus dem Team der niedrigen Ambiguitätstoleranz hingegen reagieren zutiefst verunsichert. Mitunter kann das zu einem ängstlichen Vermeidungsverhalten führen, so Gaisbauer: Sie verdrängen im schlimmsten Fall die Krise, reagieren aggressiv, oder begeben sich auf die verzweifelte Suche nach der vermeintlichen Wahrheit hinter der nicht akzeptablen Realität. Es ist also kein Zufall, dass Verschwörungstheorien über ein nicht greifbares unsichtbares Virus auf besonders fruchtbaren Boden fallen.
Wie sehr wir uns medial vermittelten Katastrophen und Tragödien überhaupt öffnen können, hängt darüber hinaus mitunter mit ähnlichen Abwehrstrategien zusammen, fährt Gaisbauer fort: Wenn wir in Bildern von Flüchtlingen unsere Mitmenschen erkennen, tangieren uns diese Schicksale persönlich und wir empfinden Mitgefühl. „Glauben wir den politischen Scharfmachern, dass hier in jedem dieser Fremden eine unbändige Gefahr unseres Zivilisationsmodells abgewehrt wird, ist dies nicht der Fall“, weiß Gaisbauer. Trotzdem ist persönliche Betroffenheit nicht immer das Heilmittel für alles Schlechte in der Welt, wie er erklärt: Sie lähmt die Selbstwirksamkeit. Erst wenn Betroffenheit aufrüttelt und zum Handeln motiviert, sei sie fruchtbar. „Lähmende Betroffenheit ist gesellschaftlich gesehen nicht mehr als ein Kollateralschaden der Krise.“
„Es ist also kein Zufall, dass Verschwörungstheorien über ein nicht greifbares unsichtbares Virus auf besonders fruchtbaren Boden fallen.“
Was Krisen angeht, geht es also immer wieder um den Handlungsspielraum, den wir als Einzelne finden. Drei Fähigkeiten sind es in der Resilienzforschung, die uns angesichts von Tragödien nicht verzweifelt und gelähmt zurücklassen: Kontrollsinn, Richtungssinn und sozialer Sinn. Wer seinen eigenen Gestaltungsspielraum kennt, die großen Ziele in seinem Leben nicht ganz aus den Augen verliert und auch noch am Wohlbefinden seiner Mitmenschen interessiert ist, ist schon auf gutem Weg, „auch wenn die Geländer einmal wackeln oder wegzubrechen drohen“, so Gaisbauer.
Dazu gehört es übrigens auch, sich nicht pausenlos mit dem Unrecht dieser Welt zu beschäftigen und auch mal wegschauen zu können, solange man auf das Geschehen keinerlei Einfluss nehmen kann. Dann nämlich, so Gaisbauer, bleibt es im kritischsten Fall nur eine Frage der Pietät, ob man angesichts eines großen Leides dem eigenen situativen Glück nachgeben möchte. Anders gesagt: Wer hungernde Kinder in den Nachrichten sieht, darf trotzdem guten Gewissens in den Kichererbsen-Süßkartoffel-Burger mit Curry-Majo-Topping und Auberginen reinbeißen. Glücklich zu sein ist auch in Zeiten wie diesen nicht unmoralisch und verwerflich, gibt Gaisbauer Entwarnung. Im Gegenteil: Glückliche Menschen sind meist auch dankbar für ihr Glück, positiver, und vor allem: zuversichtlicher. „Wer dankbar ist, hat auch Kraft für andere und anderes, vielleicht auch dafür, Weltenbrände zu löschen.“
Titelbild: (c) Photo by Isi Parente on Unsplash