„Mein Großonkel hat das Gas geliefert“

Wenn Opa ein Taeter war

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Täter*innengeschichten passen nicht ins Familienalbum. Warum wir trotzdem danach fragen sollten.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein selbstgebasteltes Leiterspiel für Kinder. „Die Lagerpolizei gewatscht, vor auf 71“, steht neben einem Feld. Oder: „Als Kriegsverbrecher verdächtigt, zurück auf 101“. In der Mitte des Spielfeldes prangt eine große Überschrift: „KZ Spiel: Entlasse dich täglich.“ Was nach einem makaberen Scherz klingt, ist ein historisches Fundstück, das derzeit im Salzburg Museum ausgestellt ist. Entstanden ist das KZ-Spiel nicht in einem Konzentrationslager der Nazis, sondern im sogenannten Lager Glasenbach. Unmittelbar nach Kriegsende waren dort insgesamt 20.000 Personen in Haft, die von den US-Besatzern verdächtigt wurden, an den Verbrechen oder am Regime der Nationalsozialisten beteiligt gewesen zu sein. Gefunden hat das selbstgebastelte Spielbrett die Salzburgerin Nicole Slupetzky.

Foto: Privatbesitz Slupetzky/ Salzburg Museum
Foto: Privatbesitz Slupetzky/ Salzburg Museum

Ihr Großvater war selbst im Lager Glasenbach in Haft, zusammen mit anderen Verwandten. „Ich sage manchmal, das war dort ein richtiges Familientreffen“, erzählt sie und schildert die zahlreichen Verstrickungen ihrer Vorfahren ins NS-Herrschaftssystem. Slupetzkys Großvater war mit Nazigrößen wie Baldur von Schirach befreundet. Ihr Großonkel führte ein Unternehmen für Schädlingsbekämpfung und belieferte das Konzentrationslager Gusen mit Zyklon B-Gas. Für die Beteiligung am Mord von mehr als 150 Menschen wurde er nach Kriegsende zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Wenn alle schweigen, wird der Fragende zum Störenfried

Während ihrer Kindheit wurde über die Vergangenheit der Verwandten wenig gesprochen, erinnert sich Nicole Slupetzky. Sie selbst entwickelte während ihrer Jugend und später beim Geschichtestudium ein immer stärkeres Interesse an ihrer Familiengeschichte. Auslösendes Ereignis war für sie schließlich ein Besuch der KZ-Gedenkstelle Gusen: „Für mich war es sehr unangenehm, als ich mit den Studenten nach Gusen gekommen bin und plötzlich läuft ein Student auf mich zu und sagt ,Da steht Slupetzky, sind Sie mit dem verwandt?‘. Da habe ich mir geschworen, ich möchte nie wieder in die Situation kommen, sondern ich will sagen können, was dahinter steckte. Und ich will wissen, wie es dazu gekommen ist, um mich davon distanzieren zu können.”

„Es tut extrem weh, sich in den Spiegel zu schauen und zu sagen: Ja, bei uns in der Familie hat es auch Täter gegeben.“

Doch bei der Suche nach der Geschichte ihrer Verwandten stieß Slupetzky lange auf eine Wand des Schweigens – in erster Linie außerhalb ihrer Kernfamilie. „Lange Zeit war es so, dass man als das schwarze Schaf galt, wenn man sich damit befasste und gesagt hat, es hat in der Familie Täter gegeben“, schildert sie die Situation in ihrer erweiterten Familie, die sie als Verkehrung der Schuld erlebte. Doch Slupetzky ließ nicht locker und erforschte Zug um Zug die Familiengeschichte. Im Gegensatz zu anderen macht Slupetzky kein Tabu aus den Verstrickungen der eigenen Verwandtschaft in die Verbrechen der Nationalsozialisten. Doch das Beispiel zeigt, wie kompliziert der Umgang mit Tätergeschichten für viele immer noch ist.

Zwischen Schweigen und Nicht-Hören-Wollen

Die Wiener Zeithistorikerin Margit Reiter hat darüber ein Buch verfasst. Ihr Werk „Die Generation danach: Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis” geht der Frage nach, wie Familien in Österreich mit den Erinnerungen ihrer Vorfahren umgehen. In zahlreichen lebensgeschichtlichen Interviews beschreibt sie das Erinnern der Nachkriegsgenerationen als vielschichtigen Prozess zwischen Verdrängen und Vergessen, Verklären und Verschweigen. Dass in den Familien durch die Bank nur geschwiegen wurde, will Reiter allerdings nicht gelten lassen. „Man hört von den Kindern oft den Vorwurf ‚Die haben ja nichts erzählt’. Da muss man schon auch sagen: ‚Sie haben auch nicht nachgefragt’. Sie wollten es nicht so genau wissen. Weil meistens nichts Schönes dabei zu Tage tritt”, betont Reiter und erzählt vom Gespräch mit einer Frau, deren Vater während des Krieges in Litzmannstadt „Arbeiter aussortiert hatte”. Die Frau hatte sich bis zu jenem Tag offenbar nie die Frage gestellt, was diese Tätigkeit im Ghetto von Lodz in der Praxis bedeutete. Bekräftigt wurden die nachfolgenden Generationen in ihrem Nicht-Wissen-Wollen von der offiziellen Geschichtsschreibung im Österreich der Nachkriegszeit: „Man hat gesagt, der Nationalsozialismus war Angelegenheit der Deutschen und wir haben damit nichts zu tun. Interessant ist, dass dieses offizielle Narrativ auch in die Familien hinein gewirkt hat und dort sehr bereitwillig angenommen wurde”, so Reiter.

Foto Privatbesitz

Als Opa ein Verbrecher war

Das Erinnern an die mögliche Schuld und Komplizenschaft der eigenen Vorfahren ist für Reiter auch eine Generationenfrage. Den Kindern der Täter falle es oft am schwersten, sich mit der Geschichte ihrer Eltern auseinanderzusetzen. Zu nah sei diese mit der eigenen Identität verknüpft. Dagegen könne die Generation der Enkelkinder mit größerer Distanz auf die Geschichte der Großeltern blicken: „Ich finde diese emotionale Distanz gut, weil man freier ist, sich mit der Sache zu befassen”, sagt Reiter. Aber es gebe auch gegenläufige Entwicklungen: Zu beobachten sei in der Enkelgeneration etwa ein „Umschreiben der Geschichte” zugunsten von Opa und Oma. Eine ganz besondere Form des Erinnerns hat Margit Reiter im Milieu der sogenannten Ehemaligen beobachtet. Dabei handelt sich um jene aktiven Nationalsozialisten, die nach dem Krieg maßgeblich an der Etablierung des Dritten Lagers beteiligt waren: zuerst in der Wohlfahrtsvereinigung der Glasenbacher, später im Verband der Unabhängigen (VdU), einem Vorgänger der heutigen FPÖ. In diesen Familien wurde eine eigene Form des Gedächtnisses kultiviert. Nach außen inszenierte man sich als Opfer der Entnazifizierung. Nach innen lobte man den Zusammenhalt nach dem Krieg und die Treue zu den eigenen Idealen. „In wirklichen NS-Familien wurde das durchaus positiv vermittelt. Da hieß es dann: ‚Wir sind zu unseren Werten gestanden und bleiben uns treu‘“, so Reiter.

Gedächtnis und Erinnerung sind nie fertig. Sie werden von jeder Generation neu ausverhandelt.

In manchen Familien lebt diese Geisteshaltung bis heute fort und dringt etwa bei den wiederkehrenden „Einzelfällen” und „Ausrutschern” rechter Politiker*innen an die Oberfläche. Es sind Kontinuitäten, die sogar die Historikerin Reiter bisweilen überraschen: „Ich bin fast erstaunt, dass das noch so massiv da ist, weil ich eigentlich gedacht habe, das wird sich abschwächen“.

Die Geisteshaltung der Ehemaligen wird auch im KZ-Spiel aus Glasenbach sichtbar. Die Täter stilisieren sich selbst zu Opfern der Verfolgung und schreiben so die Geschichte um. In ihren Kindern und Enkelkindern lebt diese Überlieferung fort, sofern sich niemand findet, der sie in Frage stellt. Oft sind es die Störenfriede, die schwarzen Schafe der Familie, die mit diesen Erzählungen brechen. In jedem Fall zeigt sich jedoch: Gedächtnis und Erinnerung sind nie fertig. Sie werden von jeder Generation neu ausverhandelt. Und wenn das Erzählen aufhört, beginnt das Vergessen.


Dieser Artikel ist zuerst im QWANT. Magazin (Ausgabe 2/2018) erschienen. Ihr könnt das QWANT. kostenlos abonnieren.

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